Medizin 4.0: Computergestütze Operationen

Doktor da Vinci zittert nie

Die Mittelbayerische Zeitung berichtet am 03.05.2017

Bärtige Männer in weißen Kitteln stehen in Berlin um einen Tisch und schneiden in eine Bauchdecke. Die Hände haben sie im Zweifelsfall zuvor nicht einmal gewaschen. Die ARD-Serie „Charité“, die Millionen Zuschauer fasziniert hat, erzählt vom Aufbruch in die moderne Medizin im 19. Jahrhundert. Das Setting 150 Jahre später, an einem Regensburger Haus der Spitzenmedizin: Ein Chirurg in – selbstverständlich steriler – Kleidung sitzt an einer unscheinbaren Konsole, am Rand eines OP-Raums. Mit Daumen und Zeigefinger führt er über Joysticks winzige Schnitte in einem Unterbauch aus. Die Füße bedienen, wie an einer Orgel, Pedale mit zusätzlichen Features. Und über dem OP-Tisch zeigen hochauflösende Bildschirme in Echtzeit, was sich hinter dem Schambein des Patienten gerade tut.

Professor Max Burger, Chef der Klinik für Urologie am Krankenhaus St. Josef, operiert an diesem Tag einen Mann mit Prostatakrebs. Er knipst sich konzentriert mit Miniatur-Instrumenten, die er plastisch und in zehnfacher Vergrößerung vor Augen hat, durch feines Gewebe und macht ein bisschen den Eindruck eines Menschen, der eine anspruchsvolle und auch befriedigende Stickarbeit verrichtet. Seine Assistenten sind der OP-Pfleger Wojdan Jarek und ein gewisser da Vinci.

Doktor da Vinci zittert nie. Seine Schere, seine Pinzette und sein Nadelhalter sind beweglicher als eine Hand es je sein könnte und kaum dicker als ein Kugelschreiber. Befehle seines Chefs dimmt er zu feinsten Bewegungen herunter. Und dabei filmt er sich die ganze Zeit auch noch selbst.

Die Pinzette und die Schere tasten sich an diesem Tag durch Blutgefäße und Nervenfasern und entfernen die karzinöse Drüse. Der Patient wird, so wie es auch bei den bisher rund 1000 Einsätzen von da Vinci in St. Josef der Fall war, keine Blutkonserve brauchen. Und er wird mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit kontinent und potent bleiben.

Das roboterassistierte OP-System folgt dem Master-Slave-Prinzip – Medizin 3.5 mit glasklarer Hierarchie. Der Chirurg ist Herr des Verfahrens, da Vinci der Diener. Der Femtosekundenlaser, den die Augenklinik Regensburg etwa für Operationen am Grauen Star verwendet, geht einen Schritt weiter. Der Superlaser übernimmt vorprogrammierte Teilschritte des Eingriffs selbst. Was kommt als nächstes? Werden künftig Roboter unsere Karies vom Backenzahn bohren und uns den Blinddarm aus dem Bauch schneiden?

Für Max Burger klingt das Szenario nach leicht dissonanter Musik aus sehr ferner Zukunft. „Der Mensch ist ein individuelles Wesen.“ Kein Algorithmus kann ihn vollständig erfassen. Und auch wenn da Vinci mittelfristig Fingerspitzengefühl lernen wird, also die Fähigkeit, zwischen Tumor- und prallem gesundem Nachbargewebe zu unterscheiden – ohne versierten Chirurgen kommt er nicht aus. Burger: „Operationen werden mittel- und langfristig Handwerk bleiben.“ Medizin 4.0 werde sich vor allem auf die Vernetzung von Datenquellen fokussieren.

Zwei von drei Deutschen betrachten voll automatisiert fahrende Autos skeptisch. Zu Augen-Laser und da Vinci haben sie vergleichsweise hohes Vertrauen. Viele Patienten fragen sogar von sich aus nach den Errungenschaften.

Professor Thomas Bein vom Klinischen Ethikkomitee am Uniklinikum Regensburg betrachtet Roboter-Chirurgie ambivalent. Da Vinci etwa sei ausgesprochen fähig, gut etabliert und der wissenschaftliche outcome hervorragend. „Andererseits hat die Vorstellung, ein Roboter operiert einen Menschen, auch etwas Beängstigendes.“

Die Vorstellung, ein Roboter operiert einen Menschen, auch etwas Beängstigendes.“ Professor Thomas Bein vom Klinischen Ethikkomitee am Uniklinikum Regensburg

Die Automatisierung schleicht sich in die Gesellschaft ein. „An Scheibenwischer, die bei Regen selbstständig starten, haben wir uns gewöhnt", sagt der Medizin-Ehtiker. "Aber wo verläuft die Grenze, bis zu der Menschen bereit sind, mitzugehen?“

Ähnlich wägt Thomas Bein die Pflege 4.0 ab. Für immer mehr Bedürftige steht immer weniger Personal bereit. Im überalterten und technologieverliebten Japan sind Roboter in der Pflege keine erstaunliche Entwicklung – Roboter zum Beispiel, die nicht nur wie Häschen aussehen, sondern sich auch streichelweich anfühlen und Laute des Behagens von sich geben. Demenzkranke halten sie im Arm und sind getröstet. Auch Deutschland werde in 10 oder 20 Jahren zu wenige Menschen haben, die sich mit Herz und Verstand um die Alten kümmern können, sagt der Medizinier. Computer und Roboter werden übernehmen. „Ein Hauptproblem sind die Unmengen an Daten, die dann erhoben werden.“

Daten können helfen – Menschen aber auch kontrollieren. Bis zum letzten Atemzug. Bis zur Abschätzung des voraussichtlichen Todeszeitpunkts. Thomas Bein: „Wir müssen uns fragen, wo der Eingriff in Würde und personale Integrität beginnt.“ Eine Frage, die sich die postmoderne Gesellschaft, in der niemand mehr zu Hause sterben darf, scheut. „Der Umgang mit Krankheit und Tod wird an die Medizin delegiert“, sagt der Arzt. Einerseits treiben wir den Körperkult auf die Spitze, andererseits verdrängen wir die Leiblichkeit. „Die Frage der Zukunft wird sein: Können Roboter Moral lernen?“

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